Jeder Tag zählt

30.06.2020

Wir nehmen die Politik beim Wort

Das Virus verändert unser Leben. Besonders davon betroffen sind die Bildungseinrichtungen. Kinder, Schülerinnen und Schüler, Pädagoginnen und Pädagogen sowie die Eltern mussten von heute auf morgen ihren Alltag sowie die Lehr- und Lernprozesse neu gestalten bzw. organisieren. Bekannte Schwachstellen liegen nun offener denn je: mangelhafte Ausstattung der Schulen, fehlende pädagogische Konzepte für die digitale Bildung …

Schule heute Ausgabe Juni 2020

Stefan Behlau, Vorsitzender VBE NRW, im Interview mit Schule heute
(Die Ausgabe Juni 2020 können Sie weiterlesen, wenn Sie auf die Grafik klicken.)

Was wurde durch Corona besonders deutlich?
Behlau: Die herausragende Rolle von Dingen und Gegebenheiten, die wir selbstverständlich und alltäglich nehmen, erkennen wir erst dann, wenn sie auf einmal und vor allem plötzlich fehlen. Das war mit den Kitas und den Schulen so seit dem 14. März und das war genauso mit Konferenzen, Sitzungen, dienstlichen, aber auch privaten Aufenthalten, Fahrten, Feiern und Gesprächen. 

Haben denn dabei die digitalen Wege nicht Auswege geboten?
Behlau: Zwar haben uns die digitalen Medien als Kommunikationswerkzeug relativ schnell helfen können, eine vermeintliche Sprachlosigkeit oder Isolation zu überwinden, doch genauso schnell habe zumindest ich für mich persönlich festgestellt, dass die Kommunikation über diese Wege letztlich nur eine Notversorgung darstellen kann.

Was bedeutet „Notversorgung“?
Behlau: Ja, wichtige Informationen und auch Meinungen können ausgetauscht werden, doch es ist eben eine digitale Kommunikation und keine persönliche. Es gelten andere Regeln, es ist ein Gespräch, das auf Ausschnitte begrenzt ist und keine Ganzheitlichkeit ermöglicht. Bei Konferenzen und Sitzungen fehlen beispielsweise die Pausen – man merkt, wie wichtig diese für einen gelingenden Sitzungsverlauf sind. Bei den privaten Videokonferenzen mit Freunden und Verwandten wurde noch stärker deutlich, wie viele Gespräche eigentlich bei gemeinsamen Treffen zeitgleich ablaufen, wir überall irgendwie involviert sind und auch viele Gespräche gleichzeitig führen. Die digitalen Hilfsmittel erlauben aber meist nur die Konzentration auf einen Akteur – eine sehr künstliche Situation. Und dass Unterricht per Videochat den jetzt sogenannten „Präsenzunterricht“ nicht ersetzen kann, war zumindest den in Schule beschäftigten Personen schon vorher klar. Schule und Unterricht kann und darf eben nicht auf die Wissensvermittlung reduziert werden.

Wie hat die aktuelle Entwicklung unser Verständnis von Bildung geprägt?
Behlau: Ich finde es persönlich teilweise erschreckend, dass Corona anscheinend das alte Bild der schulischen Bildung mittels des Nürnberger Trichters wieder befördert zu haben scheint. Wenn ich so manche Medienberichte sehe, in denen als gelingende Beispiele des Lernens auf Distanz ausschließlich Unterricht per Videochat – am besten noch in der 1:1-Übertragung des schulischen Stundenplans per Zoom oder Youtube-Channel – genannt wird, dann wird mir ganz anders.

Was ist daran denn verwerflich?
Behlau: Das ist eine deutliche Reduzierung auf Frontalunterricht unter erschwerten Bedingungen für die Lernenden. Es ist schade, dass hier nicht die Chance genutzt wurde, auch differenzierter in manchen Beiträgen auf die kreativen und didaktisch sinnvollen Wege einzugehen, die viele Lehrkräfte eingeschlagen haben, um Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern zu halten und Schule auch in der Corona-Zeit wirksam erlebbar zu gestalten. Stattdessen kommt allzu häufig der einengende Blick auf die Videoplattformen. In der Arbeitswelt der Erwachsenen gibt es den Arbeitsschutz für Bildschirmarbeitsplätze, aber beim Thema Lernen auf Distanz werden der Einfachheit halber immer die Modelle als beispielhaft vorgestellt, die von den Schülerinnen und Schülern verlangen, stundenlang auf womöglich kleine I-Pad- oder Handydisplays zu starren. Ganz davon zu schweigen, dass auch nicht alle gleichermaßen davon profitieren können, da nicht alle ähnlich ausgestattet sind.

Aber es scheint, dass das doch viele jetzt auch verstanden haben, dass der Unterricht per Videochat nicht die einzige Lösung sein kann?
Behlau: Das ist richtig. Der Blick auf das Distanzlernen ist differenzierter geworden. Schwierig finde ich trotzdem, dass durch die Schnellschüsse und akuten Notversorgungen sich jetzt viele Gewohnheiten Bahn gebrochen haben, die in normalen Zeiten eher kritisch einzuschätzen wären oder nachhaltiger hätten geprüft werden müssen. Die Flut der Lern-App-Anbieter, am besten noch kostenlos in der Probephase, ist nicht unkritisch zu sehen. Alte Gewohnheiten werden ungern wieder aufgegeben. Dieses Problem sehe ich zum Beispiel auch aktuell für das Lernmanagementsystem der LogineoFamilie, wie es jetzt so schön heißt. Logineo-LMS wird es schwer haben, sich gegen die von den Schulen und Schulträgern in der Krise etablierten kommerziellen Systeme durchzusetzen. Da kann man nur alles Gute wünschen und hoffen, dass es sowohl durch Bedienerfreundlichkeit, Funktionalität, Verfügbarkeit und letztlich auch den Kostenfaktor langfristig erfolgreich sein wird.

Wenn der Blick auf das Distanzlernen ein wenig differenzierter geworden ist, gilt das denn dann auch für die Arbeit der Lehrkräfte?
Behlau: Keine einfache Frage. Wie bei vielen Diskussionen in unserer Gesellschaft zurzeit stelle ich hier eine gewisse Spaltung fest. Die eine Gruppe, die das alte Narrativ der sogenannten „faulen Säcke“ pflegt, fundiert auf eventuell eigenen Erfahrungen als Schüler oder aber als Eltern, Großeltern, Onkel oder Tanten. Für diese Gruppe hat sich zudem das Bild der „Corona-Ferien“ eingeprägt, das nur für die Lehrkräfte galt. Das Bild der im Garten liegenden Lehrer, die sich an den „Füßen spielen“ – wie der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann ironisch bei Plasberg gesagt hat. Der Ausschluss der Risikogruppen vom Präsenzunterricht hat dies dann zusätzlich untermauert. Lehrkräfte, die nicht in Präsenz unterrichten, haben frei. So die landläufige Meinung dieser Gruppe. Und die andere Gruppe, die sehr wohl verstanden hat, was Lehrkräfte aller Schulformen in dieser Zeit geleistet haben. Das brauche ich an dieser Stelle wohl nicht mehr aufzuzählen – ein Blick in die Mails unserer Aktion Sprachrohr oder die Facebook-Kommentare nach entsprechenden Schulmails zeigt diese große Bandbreite der unterschiedlichen Tätigkeiten, die weit über das normale schulische Arbeiten hinausgingen. Hier habe ich sehr stark die Unterstützung der Politik und der Ministerin vermisst. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, den Menschen zu erklären, was das Personal in den Schulen leistet – egal ob Risikogruppe oder nicht. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, zu vermitteln und nicht weiter zu spalten. Stattdessen twitterte der Fraktionsvorsitzende der CDU-Landtagsfraktion über die hohe Zahl der Lehrkräfte in der Risikogruppe und malt das Bild der vermeintlichen Drückeberger. Stattdessen erzählt der stellvertretende Ministerpräsident im heutejournal, wie wichtig die letzten zwei Schulwochen noch wären, „um zu sehen, wo es individuelle Versäumnisse gegeben hat“, gerade bei den Grundschulkindern – bei den Schulkindern, die den höchsten Anteil Präsenzunterricht hatten im Gegensatz zu den andern Schülergruppen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass durch diese Feststellung der Erfolg des Distanzlernens absolut negiert wurde. Beide Aussagen zeugen von tiefster Unkenntnis der schulischen Praxis und spielen gleichsam mit dem oben erwähnten Narrativ. Das stimmt mich schon sehr bedenklich, hier wird durch die Politik ein Bild von Schule und Lehrkräften geprägt, das weitab ist von der Realität.

Welche Chancen offenbaren sich uns durch die Krise?
Behlau: Wenn wirklich „jeder Tag zählt“, wie Frau Gebauer es bei der Öffnung der Schulen verlautbart hat, dann kann ich das auch positiv bewerten. Ich würde mich sogar einer Kollegin anschließen, die ich im Tagesgespräch im Radio gehört habe. Sie sprach davon, dass „jede Minute zählt“, und zwar für jedes Kind und für jede Lernsituation. Wenn Politik sich hier also beim eigenen Wort nimmt, dann könnten sich Chancen eröffnen. Allein, ich gebe es zu, mir fehlt ein wenig der Glaube. Denn „weltbeste Bildung“ haben wir auch noch nicht und auch das Zitat des „lieber nicht regieren, als schlecht zu regieren“ dürfte nicht allzu ernst genommen werden. Für mich wäre es ein echter Fortschritt, wenn wir uns als Gesellschaft zusammensetzen und miteinander austauschen, was wir eigentlich von Schule und den Bildungseinrichtungen erwarten. In der Corona-Zeit wurden meiner Meinung nach die Begriffe der systemischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen und der frühkindlichen und schulischen Bildung teilweise vertauscht, fälschlicherweise synonym gebraucht. Beides geht miteinander, aber eben auch in verantwortungsvoller Abgrenzung voneinander. Die Schule und die Kita sind mehr als Bildungseinrichtungen, sie sind aber auch deutlich mehr als reine Betreuungsorte für Kinder und Jugendliche. Unserer Gesellschaft braucht beides – ohne Zweifel. Diesen Aufgaben gerechter zu werden, den Ansprüchen der Kinder und Jugendlichen, der Eltern aber auch des Staates gerecht zu werden, ohne die Beschäftigten in den Einrichtungen zu überfordern, das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Hier geht es auch um die Frage der viel gepriesenen Multiprofessionalität, die durchdacht und nicht rein additiv in einem quasi überholtem System Platz finden muss. Eine Diskussion, an der sich der VBE sicherlich gerne beteiligen wird. … und jetzt haben wir von der Digitalisierung noch gar nicht gesprochen, der Frage nach dem gelingenden Mix aus Präsenz- und Distanzlernen, der Frage, wie das Schuljahr 2020/2021 starten wird …? Oje, da bin ich wohl tatsächlich zu sehr ins Allgemeine und Grundsätzliche abgedriftet.

Dann noch einmal konkret …
Behlau: Ohne Zweifel hat sich der Blick auf die Digitalisierung der Schulen sicherlich verändert, vielleicht gibt es hier dann doch mal einen nachhaltigeren Wumms – auch für den Bildungsbereich. Wenn dies gelingt, dann kann auch der Mix aus Präsenz- und Distanzlernen gelingen. Wobei ich finde, dass hier auch immer die verschiedenen Altersstufen der Schülerschaft in den Blick zu nehmen sind. In der Grundschule und der Sekundarstufe I sind wir als Lehrkräfte in der „Holschuld“, das ist dringend zu berücksichtigen, genauso wie der Aspekt, dass das Distanzlernen nicht eine einfache Wiedergeburt der Hausaufgaben sein darf. Und der Start des Schuljahrs 2020/2021 …, tja, ich denke, es muss klar sein, dass wir ab jetzt immer Corona mitdenken müssen. Vieles wird wohl abhängig sein vom aktuellen Infektionsgeschehen. Ich hoffe, dass die Regierungen abgewogene und bedachte Entscheidungen treffen – ansonsten gibt es ja auch noch den VBE, der gewohnt kritisch-konstruktiv die Situation nicht nur kommentieren wird, sondern auch Denkanstöße geben wird. 

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